Gemeinsam unterwegs 2010

Erinnerungen an eine unvergessliche Reise

Dreizehn Tage „gemeinsam unterwegs“ in Siebenbürgen



Ich möchte von einer Reise erzählen, die mich überaus beeindruckt hat, von Landschaften und Menschen, die ich niemals vergessen werde. Von einer
Reise in eine andere Zeit und in eine andere Welt – mit tausend verschieden-artigen Facetten: Den Dörfern und Städten, die noch immer vom Fleiß und vom Wohlstand der Siebenbürger Sachsen zeugen. Den stolzen Wehrkirchen, die an Gefahr und Kampf, aber auch an große Gottesfurcht erinnern. Den Burgen und Schlössern, die Macht und Reichtum widerspiegeln. Am meisten aber fasziniert war ich von einem kleinen Dorf, das gleichsam am Ende der Welt liegt. Es trägt den Namen Nimesch.

In Nimesch sind viele aus unserer Reisegruppe großgeworden, haben dort ihre Kindheit und Jugend verbracht, eine Familie gegründet, haben hart gearbeitet und etwas aufgebaut. Jetzt kehren sie zurück, zum ersten oder zweiten Mal mitunter vielleicht nach einem schmerzvollen Abschied vor langer Zeit. Wiederkehr in die alte Heimat – voller Erwartung, mit Freude im Herzen, mit Sehnsucht und mit Trauer. Sie sind hinausgezogen in die Welt, um dort zu erfahren, was Heimat ist. Heimat ist Nimesch. Heimat ist vor allem die alte evangelische Kirche. Vor vier Jahren, als die Sachsen zum ersten Mal „zu Gast daheim“ waren, gleichsam wie in einem Sommermärchen, schrieb Birgit Brenndörfer-Jiga in ihr Tagebuch: „Es gibt Orte, die flüstern einem etwas zu. In Nimesch stoße ich ständig auf solch erinnerungsbeladene Stellen. Der Kirchhof und die Kirche flüstern ganz laut.“ Und Pfarrer Hans Schneider sagte damals zu Beginn seiner Predigt am 1. August 2006: „Wir leben zwischen zwei Welten, manchmal hier in der Vergangenheit, hier in der alten Heimat. Wir können einfach nicht loslassen von all dem, was wir hier erlebt haben und was uns da geprägt hat.“ Dies gilt wohl für alle, die in Siebenbürgen aufgewachsen sind.

Sie hatten es nicht leicht, die Nimescher Sachsen, viele hundert Jahre lang. So um 1250 waren sie aus der Gegend von Rhein und Mosel gekommen, auf der Suche nach Land. Sie rasteten am Johannisberg. Das Tal gefiel ihnen – und so fragten sie die Siedler aus dem benachbarten Meschen und Reichelsdorf, ob sie das fruchtbare Land in Besitz nehmen dürften, und jene sagten: „Nimm es!“ Daher also der Name Nimesch. Also machten sie den Boden urbar, regulierten den Bach, bau-ten Häuser, eine Schule, eine Kirche. Und wurden immer wieder bedroht, erstmals durch die Türken im Jahre 1435. Aber sie gaben nicht auf. Die Nimescher Sachsen sind ein tapferes, fröhliches und singendes Volk. Außerdem können sie einfach alles: Brot backen, säen, ernten und gärtnern. Sie keltern Wein und brennen Schnaps. Den gab es auch immer mal wieder im Bus. Und auf meine Frage, wann
sich die Sachsen denn ein Gläschen gönnen, lautete die Antwort: „Immer dann, wenn die Fichten und die Tannen grün sind.“ Naja, denn mal prost! „Der Schnaps weitet die Gefäße“, klärte mich Fritzhorst Schmidt auf, „das ist gut für die Durch-blutung bei diesem stundenlangen Sitzen.“ Fritzhorst muss es wissen, er ist ja schließlich Tierarzt.

Samstag, 31. August 2010, sieben Uhr in der Früh. Auf dem Parkplatz des Best Western Hotels im Kasseler Osten startet die Reise. Freudige Erwartung bei allen und geschäftiges Treiben, bis Hans Schinker, der Busfahrer, das Gepäck der über vierzig Menschen ordentlich verstaut hat. Ich verspüre eine große Neugierde auf Transsilvanien und die Menschen dort. In der Nähe von Schweinfurt steigen Elfi und Erna Böttcher zu sowie Regina Endres und Johanna Schenker aus Königsberg, später noch Johanna und Andreas Broos aus Landshut und Daniel Hientz aus Regensburg. Nun ist die Mannschaft komplett.

Alles ist bestens organisiert. Vor allem Ilse und Hans Thellmann, Heidrun und Karl Gärtner, Heidemarie und Simon Gärtner sowie Birgit Brenndörfer-Jiga und Nelu Jiga haben sich engagiert, haben ein beeindruckendes Programm zusammenge-stellt: Übernachtung im ungarischen Györ und dann weiter nach Kronstadt mit der Schwarzen Kirche, zu den UNESCO-Welterbestätten Tartlau und Birthälm, nach Honigberg und Poiana Brasov mit einem Festessen im Restaurant Sura Dacilor, Schloss Peles und Törzburg, Schäßburg, Reichelsdorf und Meschen, Donners-markt und Wurmloch und nicht zuletzt Mediasch und Hermannstadt.

Mittwoch, 4. August 2010. Am Nachmittag durchfahren wir Mediasch und nähern uns Nimesch. Es wird unruhig im Bus, ich spüre die Anspannung und die Nervo-sität. „Siehst Du, dort oben, das war unser Weingarten – und dort sind wir immer entlanggegangen, diesen Weg da“, sagt Andreas Broos im Siebenbürger Dialekt. Sie sind endlich wieder angekommen, die Sachsen aus Nimesch – vor ihrer Kirche. Ich habe den Eindruck, sie sind niemals weggewesen. Das ganze Dorf scheint seine Aufwartung machen zu wollen, vor allem Alte und Kinder. Ein unvergess-licher Moment – auch für mich, der ich zum ersten Mal hier sein darf. Wiedersehen, Herzlichkeit, Umarmung. Die Kirchenglocken läuten. Es ist feierlich. Erinnerungen steigen hoch, Tränen werden getrocknet. Dies alles hat mich sehr berührt.

Ich höre zum ersten Mal das Lied der Siebenbürger Sachsen – über das Land des Segens, der Fülle und der Kraft, über das Meer der Ährenwogen und das Ufer, waldumzogen: „Land voll Gold und Rebensaft!“ Nirgendwohin scheint dieser Ausruf besser zu passen: Nimesch war schließlich ein in Rumänien bekanntes und vielfach ausgezeichnetes Weindorf gewesen – mit dem besten Tropfen weit und breit. Heute liegen die Weingärten brach.

Viele der Nimescher Sachsen besuchen jetzt ihre Häuser, in denen sie einst wohnten, beziehen dort Quartier, haben kleine Geschenke mitgebracht. Rudi Dengel zeigt mir seine Werkstatt, die von früher. Und die Wiese hinter dem Haus, wo noch immer die Bienenstöcke stehen.

Höhepunkt der Reise ist das „Nimescher Treffen“ am Samstagabend im „Saal“, mit dem Gottesdienst am Nachmittag und der anschließenden Enthüllung des Stephan-Ludwig-Roth-Denkmals auf dem kleinen Platz neben der Kirche. Der „Saal“ ist festlich geschmückt, die langen Tischreihen fein gedeckt, und die Kinder aus dem Dorf stehen oben an der Balustrade und freuen sich über die Tänze und Lieder der Zigeuner, der Rumänen und der Deutschen. Ich staune über dieses fröhliche und ausgelassene Miteinander und werde dabei an die Gedanken der „Pfarrersch-Medi“ erinnert: „Als Kinder und Jugendliche wusste man, was in der Gemeinde geschah, fühlte sich geborgen und dazugehörend, von der Wiege bis zum Grabe.“ Daran scheint sich weiß Gott nichts geändert zu haben, bis auf den heutigen Tag. Da bin ich mir ganz sicher. Und dann: Nach dreizehn Tagen ist eine wundervolle Reise zu Ende gegangen, nicht nur für mich.

Richard Brunnengräber

Dieser Bericht ist in der Siebenbürger Zeitung am 5. Dezember 2010 erschienen.;